Kunstgeschichte: Art Brut / Outsider Art

Art Brut Outsider Art Kunstgeschichte

Die Kunstwelt hat sich in den letzten Jahrzehnten rasant verändert. Inmitten des Mainstreams hat sich eine faszinierende Kunstströmung etabliert, die von Außenseitern und Nonkonformisten geprägt ist - die sogenannte Art Brut. Diese rohe, unverbildete Kunst, die sich bewusst von akademischen Traditionen abwendet, hat eine bemerkenswerte Reise hinter sich und übt bis heute einen beträchtlichen Einfluss auf die zeitgenössische Kunstszene aus.

Die Ursprünge von Art Brut

Die Bezeichnung "Art Brut" geht auf den französischen Künstler Jean Dubuffet zurück, der sich Mitte des 20. Jahrhunderts intensiv mit dieser Kunstform auseinandersetzte. Dubuffet prägte den Begriff, um eine Kunst zu beschreiben, die von Menschen ohne künstlerische Ausbildung geschaffen wird - Autodidakten, Geisteskranke, Gefangene und andere gesellschaftliche Außenseiter. Diese Werke, die außerhalb des etablierten Kunstsystems entstanden, zeichneten sich durch eine unkonventionelle, rohe Ästhetik aus, die Dubuffet als "unverbildet" und "ursprünglich" bezeichnete.

Die Anfänge in der Psychiatrie

Die Wurzeln der Art Brut lassen sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen, als Psychiater begannen, die Bildwerke ihrer Patienten zu sammeln und zu untersuchen. Pioniere wie Paul Meunier, Walter Morgenthaler und Hans Prinzhorn erkannten den ästhetischen Wert dieser Werke, die von Menschen mit psychischen Erkrankungen oder geistiger Behinderung geschaffen wurden. Sie sahen darin eine authentische, unverfälschte Form der künstlerischen Expression.

Dubuffets Konzept der "Rohen Kunst"

Dubuffet griff diese Ideen auf und entwickelte sein Konzept der Art Brut weiter. Er sah in diesen Werken eine Möglichkeit, sich von den etablierten Kunstformen und -traditionen abzugrenzen. Für ihn verkörperten sie eine Art der Kreativität, die frei von akademischer Prägung und kommerziellen Interessen war. Dubuffet wollte die Anerkennung dieser margininalisierten Kunstformen vorantreiben und ihnen einen gleichberechtigten Platz in der Kunstwelt verschaffen.

Charakteristika der Art Brut

Die Kunst der Art Brut zeichnet sich durch eine Reihe von Merkmalen aus, die sie von anderen Kunstströmungen unterscheiden:

Unkonventionelle Ästhetik

Die Werke der Art Brut-Künstler weisen eine rohe, unverbildete Ästhetik auf, die sich bewusst von akademischen Traditionen abwendet. Sie sind geprägt von einer intensiven Expressivität, einem Hang zum Phantastischen und Visionären sowie einer Ablehnung von Konventionen.

Autodidaktisches Schaffen

Die Künstler der Art Brut sind Autodidakten, die ihre Werke ohne formale künstlerische Ausbildung schaffen. Ihr Ausdruck entspringt einem inneren Drang und einer Befreiung von äußeren Einflüssen.

Obsessives, zwanghaftes Schaffen

Viele Vertreter der Art Brut sind besessen von ihrem künstlerischen Schaffen und widmen sich ihm mit einer geradezu zwanghaften Intensität. Ihre Werke entstehen oft im Rahmen psychiatrischer Einrichtungen oder an den Rändern der Gesellschaft.

Ahistorische Perspektive

Im Gegensatz zu etablierten Künstlern, die sich in eine historische Tradition einordnen, arbeiten die Künstler der Art Brut völlig ahistorisch. Ihre Werke entwickeln sich aus einer hermetischen Abgrenzung von Kunstströmungen und -traditionen.

Bedeutende Künstler der Art Brut

Obwohl die Art Brut-Szene lange Zeit als Nischenphänomen galt, haben einige ihrer Vertreter inzwischen internationale Anerkennung erlangt. Zu den bekanntesten Künstlern zählen:

Adolf Wölfli

Der Schweizer Künstler Adolf Wölfli gilt als einer der Pioniere der Art Brut. Seine umfangreichen, phantastischen Zeichnungen, die er während seiner Zeit in einer psychiatrischen Anstalt schuf, wurden zu Lebzeiten entdeckt und später international ausgestellt.

Aloïse Corbaz

Die Schweizerin Aloïse Corbaz war eine weitere einflussreiche Vertreterin der Art Brut. Ihre farbenfrohen, detaillierten Zeichnungen und Gemälde, die sie in einer Psychiatrie anfertigte, zeichnen sich durch eine unverkennbare Bildsprache aus.

Augustin Lesage

Der französische Bergarbeiter Augustin Lesage entwickelte ein komplexes, symbolhaftes Bildrepertoire, das von okkulten Motiven und visionären Elementen geprägt ist. Seine Werke gelten als Meilensteine der Art Brut.

Alfonso Ossorio

Der philippinisch-amerikanische Künstler Alfonso Ossorio schuf faszinierende Assemblage-Arbeiten aus Alltagsgegenständen, die er zu surrealistischen Skulpturen und Environments zusammenfügte. Er war ein wichtiger Förderer der Art Brut.

Die Anerkennung der Art Brut

Lange Zeit wurden die Werke der Art Brut-Künstler als Kuriosität belächelt und an den Rand der Kunstwelt gedrängt. Doch in den letzten Jahrzehnten hat sich dies grundlegend geändert.

Dubuffets Sammlung und Museum

1947 gründete Jean Dubuffet die "Compagnie de l'Art Brut", um die Werke dieser Künstler zu sammeln und auszustellen. 1975 übergab er seine inzwischen 15.000 Objekte umfassende Sammlung der Stadt Lausanne, wo sie seitdem im "Collection de l'Art Brut" Museum gezeigt wird.

Zunehmende Präsenz in Ausstellungen

Durch Ausstellungen wie die documenta 5 und andere Präsentationen in renommierten Museen erhielten die Künstler der Art Brut zunehmend öffentliche Aufmerksamkeit. Heute sind ihre Werke fester Bestandteil vieler Kunstsammlungen und -messen.

Spezialisierter Kunstmarkt

Es hat sich ein eigenes Marktsegment für Art Brut-Kunst entwickelt, mit spezialisierten Galerien, Messen wie der Outsider Art Fair und Auktionen, auf denen Werke der bekanntesten Vertreter hohe Preise erzielen.

Der Einfluss der Art Brut auf die zeitgenössische Kunst

Die Bedeutung der Art Brut geht weit über ihre eigenen Grenzen hinaus. Sie hat die Kunstwelt nachhaltig beeinflusst und inspirierende Impulse gesetzt:

Infragestellung des Kunstbegriffs

Die unkonventionelle Ästhetik und der Entstehungskontext der Art Brut-Werke haben dazu beigetragen, den traditionellen Kunstbegriff zu hinterfragen und zu erweitern. Sie zeigten, dass Kreativität jenseits akademischer Konventionen möglich ist.

Inspiration für moderne Künstler

Viele renommierte Künstler des 20. Jahrhunderts, von den Expressionisten bis hin zu zeitgenössischen Vertretern, ließen sich von der Spontaneität und Unverbrauchtheit der Art Brut inspirieren. Beispiele sind Pablo Picasso, Jean-Michel Basquiat oder David Bowie.

Förderung der Inklusion

Die zunehmende Anerkennung der Art Brut hat dazu beigetragen, die Stellung marginalisierter Kunstformen und ihrer Schöpfer in der Gesellschaft zu verbessern. Initiativen wie der EUWARD-Kunstpreis unterstützen Künstler mit geistiger Behinderung.

Ausblick: Die Zukunft der Art Brut

Obwohl die Art Brut inzwischen fester Bestandteil des Kunstkanons geworden ist, bleibt sie eine lebendige und dynamische Strömung. Ihre Zukunft ist vielversprechend:

Weiterhin Entdeckungen und Neuentdeckungen

Immer noch werden unbekannte Werke von Außenseiterkünstlern entdeckt, die das Bild der Art Brut erweitern und bereichern. Der Forschungsdrang in diesem Bereich ist ungebrochen.

Interdisziplinäre Ansätze

Die Auseinandersetzung mit Art Brut öffnet sich zunehmend für interdisziplinäre Perspektiven. Kunstwissenschaftler, Kulturhistoriker und Psychologen erforschen gemeinsam die Hintergründe und Wirkungen dieser Kunstform.

Internationale Vernetzung

Die Art Brut-Szene ist heute global vernetzt. Spezialisierte Museen, Galerien und Messen in Europa, Nordamerika und Asien tragen dazu bei, diese Kunstform weltweit bekannt zu machen und zu fördern.

Mit ihrer einzigartigen Ästhetik, ihrer Authentizität und ihrer Unabhängigkeit von Konventionen hat die Art Brut einen festen Platz in der Kunstwelt erobert. Sie inspiriert Künstler, Kunstliebhaber und Forscher gleichermaßen und verspricht auch in Zukunft spannende Entdeckungen und Entwicklungen.



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